„Die singuläre Aufgabe, nur ein hübsches Haus zu bauen, ist heutzutage mehr und mehr absurd.“
7. Dezember, 2022Architekt*innen sind Schlüsselfiguren beim Erreichen der Klimaziele. Ihre Arbeit wirkt sich unmittelbar auf den Ausstoß klimaschädlicher CO2-Emissionen aus. Sie sind es aber auch, die mit ihrer Arbeit Städte und Gemeinden resilienter gestalten können. Gerade deshalb ist nachhaltiges Planen und Bauen das alles überstrahlende Thema in der Profession. Die Frage nach dem „Wie“ ist dabei die, die alle umtreibt. Carsten Venus von Architekten Venus aus Hamburg und Martin Schmitt von Martin Schmitt Architektur in Berlin diskutieren darüber, welche Herausforderungen, Hemmnisse und Chancen nachhaltiges Planen und Bauen mit sich bringt, wie sie in ihren Büros den Grundstein dafür legen und warum beiden ein „Schellnhuber-Moment“ half, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Ihre beiden Büros haben sich dem nachhaltigen Planen und Bauen verschrieben. Warum? Gab es einen auslösenden Moment?
Carsten Venus: Ich bin der Meinung, dass das Thema der Nachhaltigkeit in der DNA der Architekt*innen verankert ist. Schon bevor es dieses Wort überhaupt gab. Mittel wirtschaftlich sinnvoll und wirksam einzusetzen – und darum ging es im Wohnungsbau und im Bürobau eigentlich schon immer –, ist nachhaltig. Und das betrifft auch die Materialität. Der grundsätzliche Gedanke des nachhaltigen Planens und Bauens überrascht uns Architekt*innen daher nicht. Jetzt allerdings definieren wir es weiter und analysieren, was es für die Zeit, in der wir aktuell leben, bedeutet und was wir tun müssen.
Martin Schmitt: Bei mir gab es aber tatsächlich einen Moment, der vieles verändert hat. Und dieser hat mit einem Vortrag des Klimaforschers Hans-Joachim Schellnhuber auf dem Konvent der Baukultur der Bundesstiftung Baukultur im Mai dieses Jahres zu tun. Sein Vortrag, in dem er die Kipppunkte im Klimasystem erklärt und den Zusammenhang von Bauen und Klimafolgen dargestellt hat, hat mich sehr beeindruckt. In diesem Moment war mir klar: Mit unserer Strategie, bewusster nachhaltig zu arbeiten, sind wir nicht nur auf dem richtigen Weg, sondern es ist auch der notwendige, der einzige Weg. Was wir heute vielleicht noch Profilierung nennen, wird irgendwann einmal normale Praxis für uns Architekt*innen sein. Die Basis sozusagen.
Aber noch eine weitere Komponente spielt mit hinein: Während meiner Ausbildung zum Zimmermann, die ich vor meinem Architekturstudium absolviert habe, bin ich zum ersten Mal mit dem Holzbau in Berührung gekommen. Als Architekt habe ich mich dann darauf konzentriert. Allerdings dachte ich nicht darüber nach, dass ich mich dem Holzbau verschreiben möchte, weil er nachhaltig ist. Diese Erkenntnis kam erst später. Im Büro haben wir uns erst vor ein paar Jahren Gedanken darüber gemacht, was nachhaltig planen und bauen für uns bedeutet. Wir haben überlegt: Wie bekommen wir das ins Büro hinein?
Wie sind Sie vorgegangen?
Martin Schmitt: Wir wussten zwar, wie guter Holzbau funktioniert. Bis etwa 2018/2019 haben wir aber noch nicht sortenrein gebaut. Unser Augenmerk lag bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht ausschließlich auf ökologischen Materialien. Wir wussten aber, dass es das ist, was wir zukünftig machen wollen und auch machen müssen. 2019 haben wir im Büro unsere Serverstrukturen umgestellt, BIM auf die Agenda gesetzt und entschieden, Nachhaltigkeit für uns umfassender zu betrachten. Neben dem Bauen mit Holz kommen nun Projektziele wie Energieautarkie, Lebenszykluskostenoptimierung, CO2-Neutralität, zirkuläre Stoffkreisläufe, Lowtech-Konzepte und andere hinzu, die individuell mit unseren Auftraggeber*innen erarbeitet und abgestimmt werden. Hinzu kommt auch, dass wir Bestandsgebäude hinsichtlich dieser Aspekte bewerten und auf jeden Fall erhalten wollen. Rückbau ist die letzte Option.
Carsten Venus: Ich habe Professor Schellnhuber 2018 auf der Biennale in Venedig gehört. Das war für mich auch ein besonderer Moment. Schellnhuber sprach über das Bauen mit Beton und den damit verbundenen CO2-Ausstoß und warnte, dass wir eigentlich gar nicht mehr mit Beton bauen dürften. Nirgendwo auf der Welt. Wenn man so etwas hört, geht man, so erging es zumindest mir, geläutert nach Hause. Natürlich ist seine Perspektive eine globale; er schaut von einer höheren Ebene auf das Geschehen. Am nächsten Montag sitzt man dann im Büro und hat mit ganz konkreten, lokalen Situationen zu tun. Mit dem Auftraggeber oder der Auftraggeberin, mit der Stadt, mit der bauaufsichtlichen Zulassung, mit allen Gesetzen, Vorschriften und Regularien. Dieser Rahmen ist aber der, in dem wir Architekt*innen arbeiten müssen und den wir immer wieder ausdehnen sollten.
Wie sieht der Rahmen, in dem sich Ihr Büro bewegt, denn konkret aus, Herr Venus?
Carsten Venus: Unser Büro ist im großvolumigen Wohnungsbau aktiv, der von Bauherr*innen, zumeist institutionellen, beauftragt wird. Wir arbeiten mit Generalunternehmer*innen, denen wir im Vergabeverfahren oft funktionale Leistungsbeschreibungen übergeben. Und hier spätestens merkt man, dass man als Architekt*in den Einfluss verliert, weil in der Regel keine Bauprodukte vorgegeben werden, sondern nur deren Funktion. Dabei treten die Produktionsweise und die Herkunft des jeweiligen Produkts in den Hintergrund. Für eine ernsthafte Bauwende sind jedoch die Nachhaltigkeit und die Langlebigkeit jedes Elements der Architektur entscheidend. Unser Geschäftsfeld hat sich in den vergangenen 15 Jahren erheblich verändert. Der Neubau, der Wohnungsbau explizit, ist im Kapitalmarkt verankert und ein „Renditeobjekt“ geworden. Dadurch gibt es bestimmte Regeln, die dem Thema Nachhaltigkeit oft entgegenstehen.
Ich glaube aber, dass wir Architekt*innen der Bauentwicklung in Sachen Nachhaltigkeit um Jahre voraus sind, allem voran was Wissen, Erkenntnis und Digitalisierung angeht. Wir sind schon viel weiter als die Baubranche selbst. Wir können dort viele Dinge, viele Ideen als Anregung einbringen, sind aber abhängig davon, was der Bauherr oder die Bauherrin als marktgängig einordnet und was die Bauindustrie uns zur Verfügung stellt.
Die Baubranche selbst hemmt also nachhaltiges Bauen. Was ist denn in den vergangenen Jahren schiefgelaufen? Welche Fehler wurden gemacht?
Carsten Venus: Ich will nicht explizit von Fehlern sprechen. Wir haben nicht falsch gebaut, sondern wir haben uns aufgrund der Gesetzgebung auf U-Werte, also den Wärmedurchgangskoeffizienten, fokussiert. Wir haben dabei aus dem Blick verloren, dass alles, was wir bauen, früher oder später zurückgebaut werden und irgendwo landen muss. Wir haben den Lebenszyklus eines Gebäudes außer Acht gelassen. Diesen mit in den Energiebedarf eines Gebäudes hineinzubringen, war ein großer Schritt in die richtige Richtung. Architekt*innen, die in der Bestandsentwicklung arbeiten, die mit dem Thema „Bauen im Bestand“ vertraut sind, hatten das schon immer stärker auf der Agenda. Der Neubau hingegen kennt nur die Investitionskostenberechnung. In diese Rechnung fließt nicht ein, wie aufwendig der Betrieb ist, welche Kosten irgendwann später entstehen, wenn man zurückbauen muss. Die Erkenntnis ist bei den meisten Leuten schon seit vielen Jahren vorhanden, aber solange die Rahmenbedingungen nicht das „Lebenszyklusdenken“ fördern und fordern, gibt es keine Veränderung.
Aber wir Architekt*innen sehnen uns nach Veränderungen. Ob Gebäudeenergiegesetz, Effizienzhaus oder was auch immer: Wir sind froh, endlich andere Mittel zur Verfügung zu haben, als einfach nur mehr Dämmung auf die Fassade zu kleben. Je mehr Dämmung, je billiger, desto mehr Förderung, desto besser konnte man das Gebäude verkaufen. Das war das System, das diese Logik bisher honorierte. Und dieses System ist absurd. Wir Architekt*innen können hier mit Erkenntnis nicht viel bewegen.
Was müsste sich an den Rahmenbedingungen ändern, damit Sie etwas bewegen können? Und wo sehen Sie bereits Ansätze, dass Veränderungen möglich sind?
Carsten Venus: Hier spielt natürlich die Art des Objekts, des Auftrags, der Typologie eine Rolle. In der klassischen größeren Quartiersentwicklung ist ESG der Deal Breaker, der Game Changer. Man kann darüber schmunzeln, wie man will. Diese drei Buchstaben laufen über die EU-Taxonomie hinein in die Fonds, und sie bringen Veränderung. Da kommt auf einmal der*die Bauherr*in zu uns und sagt: „Mensch, können wir das nicht anders machen als mit Wärmedämmverbundsystem?“ Da schlage ich buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen. Seit 20 Jahren legt man das auf den Tisch, und auf einmal, mit ESG, geht Veränderung plötzlich … Das heißt, es geht, wenn auf der Zahlenseite der Bauherr*innen eine andere Motivation, eine andere Honorierung vorherrscht.
Martin Schmitt: Das Thema Nachhaltigkeit sickert über alle Kanäle in die Gesellschaft hinein. Dadurch gibt es eine größere Offenheit, anders zu agieren. Noch vor ein paar Jahren war nachhaltig planen und bauen eine Nische. Das hat sich verändert. Ich erlebe auch immer mehr, dass unseren Auftraggeber*innen dieses Thema wichtig ist.
Wir arbeiten gerade an ersten Projekten mit zirkulärem Bauen und Recycling. Das, was das New European Bauhaus vorgibt, schreiben wir in diese Projekte hinein und fangen auch an, so zu planen. Ich bin sehr gespannt, wo wir am Ende landen. Die Kosten sind immer die größten Hürden. Die Frage ist, ob wir als Architekt*innen es im Rahmen unserer Aufträge und Honorare schaffen, anders zu planen, weil wir natürlich auch Neuland betreten. Ich merke aber tatsächlich auf allen Ebenen und von allen Seiten eine extreme Motivation, nachhaltiger bauen zu wollen. Das heißt aber nicht, dass das ein Selbstläufer ist. Wir sind hart am Arbeiten. Es gibt viele Hürden, die wir überwinden müssen: Hürden behördlicher Natur, Normen, Brandschutz, Lieferketten, Fachkräftemangel. Das müssen wir alles bewältigen. Aber es existiert ein Bewusstsein, ein Engagement, eine positive Aufbruchstimmung bei allen, sodass ich sehr optimistisch bin, dass wir das schaffen können.
Carsten Venus: Es ist ein langer, schwieriger Prozess, da bin ich ganz deiner Meinung, Martin. Es ist nicht so, dass man einfach einen Hebel umlegen kann, und auf einmal wird auf allen Baustellen anders gebaut. Es gibt vielmehr unzählige Abhängigkeiten, von denen wiederum abhängt, was möglich ist: ob es darum geht, mit welchem Material wir bauen, welche Produkte wir verwenden oder wie die Finanzierung aussieht. Wichtig ist, dass wir eine andere Planungskultur etablieren. Seitdem wir BIM für uns entdeckt haben, ist die Planungskultur innerhalb unseres Büros auch eine andere. Und aus meiner Sicht ist BIM die Grundvoraussetzung für großmaßstäbliches nachhaltiges Bauen.
Wie hat BIM die Planungskultur in Ihrem Büro verändert? Und warum ist BIM so wichtig für das nachhaltige Bauen?
Carsten Venus: Auf Büroebene wird das Team gestärkt. Ein Projekt wird nicht mehr unterteilt in: „Du machst Fassade, du machst Fußbodenaufbau“ – ich sage das bewusst überspitzt. Das Team arbeitet vielmehr auf Augenhöhe, je nach Erfahrungshintergrund, parallel an einem Modell. Es ist ein kollaboratives Arbeiten, also gleichzeitig und zusammen und nicht nacheinander. Für unsere Arbeit ist das ein sehr großer Gewinn.
Was nachhaltiges Bauen insgesamt angeht: Wir müssen wissen, was wir bauen, wie wir die Teile zusammenfügen, wo alles herkommt und welche Klassifizierungen gelten. Wenn wir ein fünf Jahre altes Gebäude umbauen, dann wissen wir davon gar nichts. Wir ziehen Bohrkerne, um zu analysieren, was in dem Gebäude überhaupt drin ist, aus welcher Stofflichkeit es besteht. Aber durch BIM, durch das Planen im digitalen Modell, arbeiten wir mit Software, mit der wir schon in der Konzeptphase den CO2-Footprint des zukünftigen Gebäudes steuern können. Das ist für mich wie die dritte Säule, die man für die Faktenanalyse braucht: Erstens müssen die Flächen stimmen, zweitens die Kosten, und jetzt muss drittens auch der CO2-Wert stimmen. Es macht richtig Spaß, sich damit zu beschäftigen.
Und BIM hat noch einen Vorteil: Als Architekt*innen müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen, dass wir in die Umwelt eingreifen, wenn wir ein Gebäude errichten. Dieses Bewusstsein hatte ich im oder kurz nach dem Studium nicht. Da ging es darum, dass Architektur „hammermäßig“ aussehen muss. Jetzt sind sich Architekt*innen darüber bewusst, dass sie den Boden versiegeln, dass sie Materialien aus allen Ecken der Welt verwenden und es auf Jahrzehnte oder noch länger in einem Gebäude festschreiben. Auch weil dies durch BIM offenkundig wird.
Herr Schmitt, wie hat die Digitalisierung Ihre Arbeit, Ihr Bewusstsein für nachhaltiges Planen und Bauen verändert, vielleicht auch befördert?
Martin Schmitt: Das Zusammenarbeiten ist anders, gleichzeitiger, genau wie Carsten das gerade formuliert hat. Wir haben auch andere Routinen in den Planungsprozessen. Was ich aber besonders interessant finde: Es wurde schon so unfassbar viel gebaut, und wir werden einiges davon zurückbauen müssen. Und die Frage, wie wir das alles wiederverwenden, wiederverwerten können, ist entscheidend. Wenn man versucht, ein Haus aus vorhandenen Materialien zu konstruieren, dann wird man schnell merken, wie sinnhaft es ist, schon bei der Planung Daten und Informationen über die einzelnen Bauteile zusammenzutragen. Wir brauchen von Anfang an Daten, damit wir wissen, was in einem Gebäude drinsteckt. Hier ist auch die Industrie ein wichtiger Partner für uns. Es gibt bereits Hersteller, die ihre Produkte wieder zurücknehmen, aufarbeiten und wieder dem Markt zur Verfügung stellen. Das heißt für mich, mein Büro und auch für den Holzbau, dass BIM Alltagspraxis beim nachhaltigen Planen und Bauen werden wird, werden muss.
Was sind die Herausforderungen beim Wissensmanagement im Büro? Wie und woher bekommen Sie das nötige Detailwissen und wie organisieren Sie die Weitergabe und Speicherung intern?
Martin Schmitt: Wir haben nicht das Problem, an Wissen heranzukommen, sondern eher, die Informationen zu verarbeiten. Wir müssen generell viele Informationen in die Gebäude, die wir entwerfen, planen und bauen, integrieren. Das sind Rechtsvorschriften, DIN-Normen, Kosten und Termine. Mit dem Thema der Nachhaltigkeit kommen noch mehr Informationen hinzu. Die Herausforderung ist daher eher das Aussortieren, das Wichtige vom Unwichtigen trennen, das Filtern und das herausgefilterte Wissen dann auch in die Projekte hineinzubekommen.
2019 haben wir im Büro eine Initiative gestartet, denn wir hatten das Gefühl, an den Informationen zu ersticken. Wir wollten unbedingt jemanden im Büro haben, der das Wissensmanagement übernimmt, der das ganze Wissen für uns „organisiert“. Wir haben eine Informations- und Wissensmanagerin eingestellt, was damals nicht ganz so gut funktioniert hat. Aber das Thema ist immer noch da, und mein Traum wäre es, dass es jemanden gibt, der sich nur darum kümmert, das Wissen ins Büro zu holen, zu filtern und an der richtigen Stelle für uns verfügbar zu machen.
Was spricht dagegen, das zu machen?
Martin Schmitt: Das spezifische Wissen hängt oftmals bei einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin, die sich gerade um ein bestimmtes Projekt kümmern. Es ist schwierig, das Ganze so zu dokumentieren und fassbar zu machen, damit wir dann später alle darauf zurückgreifen können. Vielleicht ist BIM die Lösung. Vielleicht müssen wir uns hinsetzen und unsere Arbeit anders oder besser dokumentieren. Es ist schon einige Jahre her, Baumschlager Eberle hatten eine Ausstellung im Architekturforum Aedes. Das Büro zeigte drei Häuser mit unfassbar detaillierten Projektbüchern, in denen der Entwurfs-, Planungs- und Bauprozess bis ins kleinste Detail dokumentiert wurde. Mich hat das damals fasziniert. Ich würde sehr gerne ein Konzept entwickeln, wie wir Wissen zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zugänglich machen. Informationen gibt es viele, aber relevante Informationen in Wissen umzuwandeln, das wir dann gezielt im nächsten Projekt wiederverwenden können, das ist die große Herausforderung.
Carsten Venus: Mein Tipp ist Selbermachen. Architekt*innen müssen sich klar darüber sein, dass sie sich über das Formale hinaus Wissen erarbeiten müssen. Damit meine ich auch uns als Bürochefs. Wir müssen wissen, worüber wir reden. Wir haben kürzlich eine QNG-Zertifizierung (Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude) gemacht. Da muss man sich erst einmal hinsetzen, muss das durcharbeiten. Am Ende ist das gar nicht so kompliziert.
Ich glaube, selber machen und selber verstehen ist wichtig. Nicht den nächsten Bauphysiker anrufen und sagen: „Gib mir mal ein paar Werte rüber.“ Wenn wir das aus der Hand geben, dann können wir unsere Architektur nicht mehr steuern. Eine Grundlage in Tragwerksplanung ist genauso wichtig wie eine Grundlage in Nachhaltigkeitsplanung.
Wollen wir die schwierigste aller Fragen in Angriff nehmen: Wie plant und baut man nachhaltig?
Carsten Venus: Ich denke, als Büro, als Architekt*in muss man begreifen, wo man sich in diesem Dschungel des nachhaltigen Planens und Bauens überhaupt verortet. ESG ist erst einmal nur eine Worthülse, bis du es selbst in deinem Büro, in deinen Projekten mit Leben füllst und es mit dem ausfüllst, was du darunter verstehst. Wir lernen gerade mehr oder weniger jede Woche eine neue Abkürzung – ob das nun QNG (Anm. d. Red.: Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude), BNB (Anm. d. Red.: Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen) oder LCA, also Life Cycle Assessment, ist. Wir Architekt*innen müssen uns stetig fort- und weiterbilden. Manchmal muss man sich schon bremsen, dass man beim Weiterbilden nicht in die Chemie von Baustoffen einsteigt, was Architekt*innen natürlich überfordert.
Aus diesem Kosmos des nachhaltigen Planens und Bauens heraus müssen wir trotz allem Architektur machen. Und Architektur wird unsere Hauptaufgabe bleiben, ob sie digital erstellt wird, ob sie nachhaltig ist, einfach ist … Daran sollten wir uns auch immer wieder messen. Vielleicht wird es später auch ein neues Wort dafür geben. Wichtig ist für uns, aus dieser Komplexität heraus Leitlinien für unser Büro zu formulieren, die relevant für nachhaltiges Bauen sind.
Welche sind das?
Carsten Venus: Es sind insgesamt drei. Erstens die Reduzierung des CO2-Ausstoßes in Erstellung und Betrieb, also die Lebenszyklusbetrachtung vor dem Hintergrund des CO2-Ausstoßes. Zweitens die Reduzierung des Energiebedarfs, allem voran im Betrieb. Der dritte Aspekt, den du, lieber Martin, auch gerade schon genannt hast, ist die Rückbau-, Veränderungs- und Drittverwendungsfähigkeit von Architektur. Darüber hinaus kommt die Reduzierung des Neubaus hinzu – das wird unser essenzielles Ziel sein und wir werden nicht darum herumkommen. Das wollen wir als Architekt*innen natürlich ungern propagieren, aber es wird so sein, dass wir mit dem, was wir jetzt machen, dafür sorgen müssen, dass wir in Zukunft weniger bauen müssen.
Wie ist das bei Ihnen, Herr Schmitt? Was bedeutet es für Sie, nachhaltig zu bauen?
Martin Schmitt: Carsten und ich, wir zwei haben wahrscheinlich zur selben Zeit Architektur studiert. Und auch bei mir war es so, dass ich während des Studiums von all diesen Themen nichts mitbekommen habe. Die fanden einfach nicht statt. Jetzt habe ich das Gefühl, dass das, was wir einmal über Architektur gelernt haben, und das, was wir über Nachhaltigkeit wissen, über die Notwendigkeit, anders zu bauen, gleichwertig nebeneinanderstehen. Wir haben gelernt, was Architektur ist: Bauen für Menschen. Wir wissen, ein gut gebautes Haus ist eines, das auch schön ist. Jetzt nimmt Nachhaltigkeit denselben Stellenwert wie Ästhetik ein. Deswegen finde ich den Slogan des New European Bauhaus auch so gelungen: „beautiful, sustainable, together“. Er vereint alles, was wichtig an Architektur ist. Im Zentrum stehen für mich daher die Fragen: Was bedeutet es heute, gute Architektur zu machen? Und wie bekommen wir das zusammen hin?
Ich stelle die Frage gerne zur Diskussion: Wie bekommen wir das hin? Oder auch, wie bekommen Sie das hin?
Martin Schmitt: Ich habe nicht das Gefühl, dass uns alle das Thema einfach so durch die Hintertür erreicht. Es hat den Raum gebraucht, um in der Gesellschaft und in unserer Branche anzukommen. Und so braucht es den Raum auch im Büro. Nachdem ich Professor Schellnhubers Vortrag gehört hatte, haben wir im Büro entschieden: „Jetzt legen wir los.“ Freitagnachmittags. Hinsetzen und darüber nachdenken: Was ist nachhaltiges Bauen überhaupt? Was wollen wir machen? Was heißt das für uns? Wenn dann das erste Projekt kommt, bei dem man in die Praxis umsetzen kann, was man vorher in der Theorie durchgearbeitet hat – also das erste Projekt, bei dem man zirkulär baut, das erste Projekt, bei dem man Recycling einsetzt, das erste BIM-Projekt –, dann ist man bereit dafür und kann das auch kommunizieren. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob wir alles so realisieren können, wie wir das wollen. Der Grundstein ist gelegt: Wir haben für uns formuliert, wie wir in Zukunft planen und bauen wollen.
Bei einem aktuellen Projekt haben wir etwa unseren Vorentwurf mit dem*der Bauherr*in erarbeitet und zuerst Energie- und Landschaftsplaner*innen mit in die Planung einbezogen, nicht TGA-Planer*innen und auch noch nicht Statiker*innen. Den Aufschlag machen wir bewusst mit den Energie- und Landschaftsplaner*innen, die mit uns zusammen das Haus, die Landschaft, das Energiekonzept, den CO2-Footprint analysieren. Erst später kommen die anderen Fachplaner*innen hinzu. Das heißt, dass Themen wie Energieeffizienz, Kontext, Emissionen, Lebenszyklus die Basis des Planens sind und nicht auf irgendwann später geschoben werden.
Der Klimawandel führt zu neuen Ansätzen und Lösungen im Entwurf, in der Bauaufgabe, in der Zusammenarbeit. Würden Sie dem zustimmen?
Carsten Venus: Die Komplexität des Klimawandels spiegelt sich mehr und mehr in der Bauaufgabe wider. Wenn ich Themen wie Regenwasserretention, Fassadenbegrünung, Mobilität, aber auch soziale Aspekte in mein Projekt einbinden möchte, dann kann ich das letztendlich nur noch tun, indem ich das Gebäude im Quartier, im Stadtviertel verankere. Die singuläre Aufgabe, nur ein hübsches Haus zu bauen, ist heutzutage mehr und mehr absurd. Die Vernetzung des Gebäudes im Quartier, im Freiraum, in der Stadt, im öffentlichen Raum hat heute eine ganz andere Priorität. Das war mehr als überfällig. Und es ist großartig, mit guten Kolleg*innen, mit guten Planer*innen zusammenzuarbeiten, die uns rückspiegeln, was bei der Quartiersentwicklung seitens der Architektur erforderlich ist. Wie aus diesem Zusammenspiel Architektur entsteht, ist ein Gewinn für uns.
Martin Schmitt: Zusammenarbeit, und das schon in der Entwurfs- oder Planungsphase, ist enorm wichtig. Im Holzbau arbeiten wir mittlerweile viel enger mit dem Holzbauer zusammen. Wenn der*die Bauherr*in das möchte, können wir diese*n von Anfang an bei einem Projekt integrieren und machen die Planung hinsichtlich der baukonstruktiven Umsetzung dadurch viel belastbarer. Allerdings darf man nicht vergessen: Bei einem*einer privaten Bauherr*in ist das einfacher, da er entscheiden kann, die Bauleistung auch ohne Ausschreibung direkt zu vergeben, wenn er glaubt, dass Qualität und Preis stimmen. Geht man den klassischen Weg über öffentliche Aufträge, dann hat man fast keine Chance, von Anfang an so verzahnt zu arbeiten. Wir arbeiten jedoch daran, einen Prozess zu entwickeln, der es erlaubt, Handwerks- oder Firmen-Know-how in frühen Leistungsphasen mit einzubinden.
Carsten Venus: Ich glaube, dass wir gerade in einer Zeit leben, in der wir zwischen den erforderlichen sozialen Belangen – und das heißt auch: Ist das Ganze bezahlbar? – und der Nachhaltigkeit eines Projekts abwägen müssen. Man muss nicht drum herumreden, nachhaltiges Bauen ist teurer. Im kommunalen Bereich, wo das Geld noch knapper werden wird, sind die Investitionskosten das ausschlaggebende Argument, und da bin ich eher skeptisch, dass sich das ändern wird. Es wird eher schwieriger werden, die Nachhaltigkeitsthemen, die alle sinnvoll finden, zu verankern, wenn sie nicht explizite Vorgaben sind. Ich plädiere für klare Leitplanken, und die kann man nur über Gesetze schaffen.
Es gibt zahlreiche Beispiele, die belegen, dass einfaches, kosteneffizientes und ästhetisches Bauen sich nicht ausschließen müssen. Ist die Mär von den Mehrkosten und dem Mehraufwand beim nachhaltigen Bauen nur ein Vorurteil?
Carsten Venus: Florian Naglers „Einfach Bauen“-Credo finden wir alle großartig. So im großen Maßstab zu bauen, ist aber nahezu unmöglich, weil es sämtlichen Normen, DIN-Norm-Standards etc. zuwiderläuft. Der größte Kostentreiber ist der Gesetzgeber selbst mit seinem absurden Dschungel an Vorgaben. DIN-Normen sind Normen und keine Gesetze, aber sie werden für uns faktisch zu Gesetzen, weil wir nicht gegen sie planen können.
Wir dürfen bei all dem die soziale Komponente nicht außer Acht lassen: Kommunale Wohnungsbauunternehmen zum Beispiel haben eine soziale Aufgabe. Um überhaupt noch bezahlbaren Wohnungsbau ermöglichen zu können, müssen wir Architekt*innen immer wieder kreative Wege gehen, um die weiter auseinandergehende Schere zwischen Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit zu schließen. Ich sehe bei den Architekt*innen daher auch eine soziale Verantwortung, die dem nachhaltigen Bauen eingeschrieben ist.
Danke, Herr Venus. Herr Schmitt, die letzte Frage geht an Sie: Wo schöpfen Sie Inspiration, um nachhaltig zu planen und zu bauen?
Martin Schmitt: In der Architektur und in der Baugeschichte selbst. Es gibt großartige Bestandsgebäude, etwa aus dem 19. Jahrhundert, die alle städtebaulichen, klimatischen, materialtechnischen und ästhetischen Kriterien erfüllen und gleichzeitig so einfach gebaut sind.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!